Die Zukunft der AHV ist seit vielen Jahren ein heiss diskutiertes Thema. Die letzte Revision des Sozialwerks liegt rund 25 Jahre zurück. Seither stellt sich immer wieder die Frage: Wie geht es mit der AHV weiter? Und wie können wir ihren Fortbestand sichern? Nun stimmen wir am 25. September über einen Vorschlag zur Sicherung der AHV ab – die AHV21. Die Reform ist umstritten, löst viele Emotionen aus und stellt uns vor grosse Fragen. Für uns Frauen ist die Vorlage besonders wichtig. Warum? Das erklären wir dir im Artikel.
Worüber stimmen wir eigentlich ab?
Im Wesentlichen geht es um zwei Fragen. Erstens: Soll das Rentenalter für Frauen auf 65 Jahre angehoben werden? Bisher werden Frauen in der Schweiz im Alter von 64 Jahren pensioniert – also ein Jahr früher als die Männer. Zweitens: Soll die Mehrwertsteuer erhöht werden? Der reduzierte Mehrwertsteuersatz würde von 2,5 auf 2,6 Prozent, der Normalsatz von 7,7 auf 8,1 Prozent steigen. Der reduzierte Satz gilt unter anderem für Nahrungsmittel und Medikamente, der Normalsatz wird beispielsweise bei Dienstleistungen, Alkohol- und Tabakwaren oder Kleidung angewendet. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer bedeutet konkret, dass Produkte aus diesen Gruppen für Konsument:innen teurer werden.
Nur wenn das Stimmvolk beide Fragen mit Ja beantwortet, wird die Reform umgesetzt. Wird ein Teil der Vorlage abgelehnt, ist die ganze Reform vom Tisch.
Warum müssen wir über diese Fragen diskutieren?
Die AHV muss saniert werden. Noch geht es dem Sozialwerk finanziell zwar gut. Das Jahr 2021 schloss die AHV mit einem Plus von 0,9 Milliarden Franken. Ihr Kapital betrug 49,7 Milliarden Franken. Doch es ist eine Frage der Zeit, bis sich das ändert. Der Grund? Die Demografie. Vor allem drei Punkte machen der ersten Säule zu schaffen.
- Punkt eins: Die Babyboomer werden in den nächsten Jahren pensioniert. Wie der Name schon sagt, ist das die Generation der geburtenstarken Jahrgänge. Die Zahl der Rentner:innen nimmt darum in den nächsten Jahren zu. Folglich müssen mehr Renten ausbezahlt werden, und die Ausgaben der AHV steigen.
- Punkt zwei: Die Zahl der Rentner:innen nimmt in den nächsten Jahren nicht nur zu, sondern auch das Verhältnis zwischen Rentner:innen und Erwerbstätigen, die in die AHV einzahlen, verschiebt sich. Im Jahr 2020 kamen auf eine:n Rentner:in 3,3 Erwerbstätige. Bis 2050 werden es laut dem Bund pro Rentner:in noch 2,2 Erwerbstätige sein. Zum Vergleich: 1948 gab es pro Rentner:in noch 6,5 Erwerbstätige.
- Punkt drei: Wir alle leben länger und beziehen darum länger Rente.
Diese drei Punkte sorgen dafür, dass in den nächsten Jahren mehr Geld aus der AHV hinaus- als hineinfliessen wird. Gemäss Berechnungen des Bundes wird die AHV schon ab 2025 rote Zahlen schreiben. Im Jahr 2032 wird ein Defizit von rund 4,7 Milliarden Franken erwartet.
Und was tun wir nun dagegen?
Die Lösung liegt eigentlich auf der Hand: Um die AHV zu sanieren und so die Renten zu sichern, soll mehr Geld in den und weniger Geld aus dem AHV-Topf fliessen. Wie man das umsetzt, ist allerdings nicht ganz so einfach. In einem intensiven politischen Prozess haben National- und Ständerat jene Lösung ausgearbeitet, über die wir jetzt abstimmen. Also Frauenrentenalter und Mehrwertsteuer rauf. Die Erhöhung des Frauenrentenalters sorgt dafür, dass weniger Geld für Renten aus dem Topf hinausfliesst. Konkret rechnet der Bund in den nächsten zehn Jahren mit Einsparungen von rund 5 Milliarden Franken. Die höhere Mehrwertsteuer sorgt für mehr Zuflüsse. Hier wird im selben Zeitraum mit rund 12 Milliarden Franken zusätzlichen Einnahmen gerechnet. Insgesamt soll die Reform die AHV in den nächsten zehn Jahren also um 17 Milliarden Franken entlasten.
Zur Abstimmung kommt dieses Paket übrigens, weil nicht alle mit der Lösung einverstanden sind. Vor allem linke Parteien sowie Gewerkschaften und teilweise Frauenorganisationen lehnen die Reform ab. Sie haben das Referendum ergriffen.
Was stört die Gegner:innen an dieser Lösung?
In erster Linie ist es die Erhöhung des Frauenrentenalters, die den Gegner:innen sauer aufstösst. Aus ihrer Sicht wird die AHV einseitig auf Kosten der Frauen saniert. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund rechnet vor, dass jede Frau durch die Reform 26'000 Franken an Rente verliert. Dieser Betrag entspricht einem Jahr AHV-Rente, ausgehend von einem mittleren Einkommen. Die Gegner:innen kritisieren weiter die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Im aktuellen wirtschaftlichen Umfeld, in dem aufgrund der Inflation alles teurer werde, sei eine solche Erhöhung nicht vertretbar. Und schliesslich zweifeln sie an den Berechnungen des Bundes bezüglich der Finanzlage der AHV. Die Prognosen seien zu pessimistisch.
Was würde eine Annahme der Reform konkret für die Frauen bedeuten?
Gibt es ein Ja zur AHV-Reform, tritt sie per Januar 2024 in Kraft. Das neue Pensionsalter 65 für Frauen wird ab 2025 eingeführt. Es ist aber nicht so, dass dann alle Frauen gleich ein Jahr länger arbeiten müssen. Das Rentenalter wird für Frauen ab Jahrgang 1961 schrittweise erhöht. Frauen mit Jahrgang 1961 arbeiten drei Monate länger bis zur Pensionierung, Frauen mit den Jahrgängen 1962 und 1963 arbeiten sechs Monate beziehungsweise neun Monate länger. Die Ersten, die tatsächlich bis 65 arbeiten würden, wären jene Frauen, die 1964 geboren wurden.
Welche finanziellen Folgen hat die AHV21?
Frauen erhalten für die längere Erwerbszeit Entschädigungen. Einen Ausgleich bekommen allerdings nur Frauen mit den Jahrgängen von 1961 bis 1969 – die sogenannte Übergangsgeneration. Vorgesehen sind zwei Arten von Kompensation. Die erste Möglichkeit: Frauen der genannten Jahrgänge können früher in Rente gehen – also vor 65 Jahren –, ohne dass sie eine volle Rentenkürzung hinnehmen müssen. Das ist ein Plus, denn normalerweise gilt: Wer sich früher pensionieren lassen will oder muss, bekommt nicht die volle Rente.
Die zweite Möglichkeit: Frauen dieser Jahrgänge arbeiten bis 65 und bekommen dafür einen Rentenzuschlag. Sie erhalten also jeden Monat Geld obendrauf, wenn sie bis zum neuen Rentenalter erwerbstätig bleiben. Wie viel Geld sie zusätzlich bekommen, ist abhängig von ihrem Jahrgang und vom Einkommen. Der Zuschlag beträgt zwischen 12.50 und 160 Franken pro Monat. Vom Maximalbetrag profitieren allerdings nur zwei Jahrgänge (1964 und 1965).
Ändert sich noch etwas bezüglich Rentenbezug?
Ja, da ist noch der sogenannte flexible Rentenbezug. Schon heute kann man sich früh pensionieren lassen oder die Pensionierung aufschieben. Neu soll das System noch flexibler werden. Frauen und Männer haben mit der AHV21 die Möglichkeit, ihre Rente zwischen 63 und 70 Jahren zu beziehen, Frauen der Übergangsgeneration (Jahrgänge 1961 bis 1969) schon ab 62 Jahren. Neu wird auch ein Teilrentenbezug oder ein Teilrentenaufschub möglich. Wer länger arbeitet, bekommt einen Zuschlag. Wer sich früher pensionieren lässt, muss eine Kürzung hinnehmen.
Was ist mit der Mehrwertsteuer?
Die Mehrwertsteuer ist eine sogenannte allgemeine Verbrauchs- und Konsumsteuer. Ihre Höhe wird nicht nach Einkommen oder Vermögen abgestuft, sondern sie betrifft alle Menschen gleich. Wer etwas konsumiert bezahlt dem Staat einen finanziellen Beitrag. Da die Höhe der Mehrwertsteuer nicht abgestuft wird, belastet die Steuer kleine Einkommen mehr als grosse. Von einer Erhöhung sind damit also Menschen mit wenig Geld mehr betroffen. Dazu zählen auch Frauen, da ihre Einkommen und Vermögen im Schnitt tiefer sind, als jene der Männer. Frauen verdienen in der Schweiz im Schnitt 43,2 Prozent weniger als Männer.
Ist die AHV21 nun ein guter Deal oder nicht?
Das ist Ansichtssache. Für die Gegner:innen ist vieles nicht gut an dieser Reform. Sie kritisieren unter anderem, dass die Rentensituation von Frauen weiter verschlechtert werde. Die Reform sei faktisch ein Renten- und Leistungsabbau. Zudem bewerten die Gegner:innen die Kompensationen als zu knausrig. «Nur 30 Prozent von dem, was Frauen aus der Übergangsgeneration mit der AHV21 verlieren, wird kompensiert. Die Hälfte der Frauen aus der Übergangsgeneration fährt mit der AHV21 schlechter als heute», erklärt Mattea Meyer, Co-Präsidentin der SP Schweiz. Dazu macht sie ein Beispiel mit einer Pflegefachfrau mit Kindern. «Sie kann auch mit der heutigen Regelung bis 65 arbeiten und erhält dann einen Rentenzuschlag. Wenn sie bei einem Ja zur Reform bis 65 arbeiten muss, würde sie im Vergleich weniger Geld erhalten.» Im historischen Vergleich seien die Kompensation «mickrig». Bei früheren Vorschlägen waren grosszügigere Kompensationen vorgesehen.
Was halten die Befürworter:innen dem entgegen?
Sie halten wenig von diesen Berechnungen. «Wir sehen es eher so: Wenn wir ein Jahr länger arbeiten, bekommen wir ein Jahr länger Lohn und können ein Jahr länger in die Pensionskasse einzahlen. Das wirkt sich positiv auf unsere Rente aus», sagt Christina Bachmann-Roth, Präsidentin der Mitte Frauen Schweiz. Bei den Rentenverlusten und den Kompensationsmassnahmen sind die Befürworter:innen ebenfalls anderer Meinung, da alle Frauen der Übergangsgeneration einen lebenslangen Rentenzuschlag abhängig vom Einkommen erhielten. «Frauen der Jahrgänge 1964 und 1965, die den maximalen Zuschlag von 160 Franken bekommen, profitieren aufs Leben gesehen von fast 40'000 Franken mehr Rente. Auch wenn man noch die 26'000 Franken abzieht, bleibt unter dem Strich ein Plus», erklärt Bachmann-Roth. Es sei ein guter Deal, der die AHV bis 2030 sichere, den Renteneintritt flexibler mache und den Gender Pension Gap verkleinere.
Und wie war das nochmal mit der Gleichstellung?
Auch hier gehen die Meinungen selbstverständlich auseinander. Die Diskussion erinnert an die Huhn- oder Ei-Frage. Christina Bachmann-Roth betont, dass Frauen in der AHV heute durch das Rentenalter 64 privilegiert seien. Gleichzeitig räumt sie ein: «Vielerorts sind Frauen benachteiligt, und es braucht Reformen, beispielsweise bei der Pensionskasse oder der Lohngleichheit. Ich will aber nicht, dass wir aufgrund der falschen Reihenfolge jetzt eine gute und wichtige Reform versenken.»
Die umgekehrte Herangehensweise will Mattea Meyer. Für sie ist klar, dass Frauen und Männer in der Schweiz längerfristig dasselbe Rentenalter haben werden. «Wenn wir das haben, hat das aber auch einen guten Grund. Weil wir nämlich mit unserer Gleichstellungspolitik für mehr und bezahlbare Kita-Plätze und Lohngleichheit erfolgreich sein werden.»
Was finden eigentlich wir von elleXX?
Das können wir nicht so einfach sagen, denn wir sind uns nicht einig. Wenn du wissen möchtest, wie wir das Thema diskutiert haben und wie unsere Argumente aussehen, dann lies am Samstag unser Streitgespräch.