«Jeder Mensch hat ein Recht, in Würde in Rente zu gehen - egal, ob die Person in ihren aktiven Jahren bezahlte oder unbezahlte Arbeit geleistet hat», findet Danielle Axelroud, ehemalige Steuerexpertin, Autorin und Gleichstellungs-Aktivistin. Die Zahlen und Fakten rund um die unbezahlte Care-Arbeit seien viel zu wenig bekannt.
Gemäss Mascha Madörin, Pionierin der Care-Ökonomie, ist die monetär nicht honorierte Arbeit von Männern und Frauen rund um das Aufziehen und Haushalten von Kindern bis vierzehn Jahren 107 Milliarden pro Jahr wert, oder monatlich 7000 Franken für einen Paarhaushalt mit zwei Kindern. Zahlen, die unser Wirtschafts- und Vorsorgesystem nicht berücksichtigt.
Nur wer bezahlt arbeitet, erhält eine Rente. Das Vorsorgesystem ist an bezahlte Arbeit geknüpft. Den Frauen fehlt dieses Geld oft nicht nur im Alltag, sondern auch später im Ruhestand. Rund 35 Prozent weniger Rente erhalten Frauen als Männer.
Die linken Ideen: Die zweite Säule reformieren, weniger Arbeitszeit
Danielle Axelroud sagt dazu: «Mascha Madörin veranschaulicht in ihrer Rechnung ganz pragmatisch, was eine Anerkennung monatlich für eine Durchschnittsfamilie bedeuten könnte». Um diese Arbeit auch wirtschaftlich abzubilden, wäre laut Axelroud ein Care-Lohn eine Variante. Sie sieht aber auch andere Lösungen. Wenn die Normalarbeitszeit reduziert werden könnte, würde dies viele Care-Arbeitende entlasten. Konkrete Lösungen sieht sie aber vor allem im Vorsorgesystem. An die erste Säule müsste man anknüpfen: «Die AHV berücksichtigt mit ihren Umverteilungen, den Erziehungs- und Betreuungsgutschriften und dem Ehegatten-Splitting nämlich als einziges Regelwerk die Arbeit von fürsorgenden Menschen». Deshalb gelte es, vor allem die zweite Säule zu reformieren, die Pensionskasse.
Axelroud hält es für problematisch, dass Rücklagen für die Rente im Schweizer Vorsorgesystem generell nur aus Erwerbsarbeit entstehen und Fürsorgearbeit in der zweiten Säule gar nicht angerechnet wird. Das BVG-System gehe von linearen Erwerbsbiografien im 100-Prozent-Pensum aus, was nicht mehr zeitgemäss sei. Deshalb hat sie die Vision eines neuen Altersvorsorge-Modells entwickelt: «Zur bestehenden AHV würde ich eine zusätzliche AHV nach dem gleichen Prinzip schaffen und die obligatorische zweite Säule einfrieren». Während einer Generation erhielten die Menschen bis zum Einfrierpunkt weiterhin eine Rente aus der zweiten Säule, allmählich würde diese von der zusätzlichen AHV abgelöst. Das Überobligatorium für Gutverdienende könne man beibehalten.
Die liberalen Ideen: Möglichmachen der Vereinbarkeit und Selbstverantwortung
Auch Claudine Esseiva, Berner Stadträtin und Co-Präsidentin des Verbands von Business and Professional Women (BPW) Schweiz, setzt sich für die Gleichstellung ein: «Unser Ansatz ist nicht ein Grundeinkommen oder eine Umverteilung, sondern das Möglichmachen der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Karriere». Investitionen in diesem Bereich zahlten sich für die Gesamtwirtschaft aus. Dies könne nicht genügend wiederholt werden. Hierzu brauche es Lohngleichheit und ein faires Steuersystem wie die Individualbesteuerung. Eine grundlegende Neugestaltung der Altersvorsorge sieht Esseiva hingegen kritisch und betont: «Das aktuelle Altersvorsorgemodell war und ist immer noch ein austariertes Sozialwerk, dem die Politik Sorge tragen muss».
Eine bessere Abdeckung der Betreuungs- und Care-Arbeit in der BVG hält sie aber für zentral. Und in einem Punkt ist sie mit Danielle Axelroud einig: «Bei der zweiten Säule muss man von der konservativen, männlichen Erwerbsbiografie wegkommen und diese flexibler ausgestalten.» Damit spricht sie die Eintrittsschwelle und den Koordinationsabzug an: zwei Fallstricke für Menschen mit mehreren Arbeitgebern und kleinen Pensen – was wiederum vor allem Frauen betrifft.
Für eine faire Aufteilung der Heim- und Fürsorgearbeit nimmt die FDP-Politikerin in erster Linie die Paare in die Pflicht: «Frau und Mann müssen gemeinsam definieren, wer welche Rolle im Konstrukt Familie übernimmt». Deshalb ist sie auch für eine gleichberechtigte Elternzeit.
Ideen aus dem Think Tank: Die Lösung einer flexiblen dritten Säule
Eine solche Lösung von 16 bis 20 Wochen ohne Reservezeiten für Väter schlägt Avenir Suisse vor. Der unabhängige Think Tank will Partnerschaften jegliche Formen der Arbeitsteilung ermöglichen. «Es ist Zeit, dass das Sozialversicherungssystem den unterschiedlichen Präferenzen Rechnung trägt», erklärt Jérôme Cosandey, Direktor der Romandie und Forschungsleiter für eine tragbare Sozialpolitik der Organisation. Eine Reduktion der Arbeitszeit für eine bessere Vereinbarkeit erachtet er nicht als sinnvoll. Dies entspräche einer Lohnerhöhung ohne Gegenleistung, was die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz verschlechtern würde. Auch mit einem Fürsorgegeld hat er Mühe: der Anreiz und das Risiko für eine lange Erwerbsabsenz wären zu gross. «Nach Madörins Logik wäre neben der Care-Arbeit auch das wichtige ehrenamtliche Engagement in Sport, Politik und Kultur zu berücksichtigen. Würde man es auch kollektiv finanzieren?», wirft der Wirtschaftshistoriker zudem ein.
Das aktuelle Drei-Säulen-System schätzt Cosandey in seinem Grundsatz: «Die Abstützung der Altersvorsorge auf drei Pfeilern hat den Vorteil, sie individuell branchen- und unternehmensspezifisch sowie finanziell anzupassen». Diese Diversifikation hält er gerade in einer alternden Gesellschaft für essenziell. Um Erwerbsunterbrüche besser aufzufangen, ist auch er für beweglichere Lösungen in der Rentenversicherung. Potenzial sieht der Forscher vor allem in einer Öffnung und Flexibilisierung der dritten Säule: «Auch ohne AHV-pflichtiges Einkommen soll man ein Konto eröffnen und Beiträge entweder im jeweils laufenden Jahr oder später einzahlen können», erklärt er.
Kein privates Problem
«Weil das Total der unbezahlten Arbeit grösser ist als das der bezahlten und der meiste Aufwand in Hausarbeit und Erziehung fliesst, ist das Problem nicht mehr privat und nicht individuell oder auf Partnerschaftsebene zu lösen», gibt Steuerexpertin Danielle Axelroud zu bedenken. Die Schwierigkeit, dass fast ein Drittel der Frauen heute bei der Pension keine Rente aus der zweiten Säule erhalte – von der privaten Vorsorge ganz zu schweigen – und der Gender Pension Gap insgesamt rund 35 Prozent betrage, sei dringend gesamtgesellschaftlich anzugehen.
Claudine Esseiva und BPW legen den Fokus auf die finanzielle und gesellschaftliche Selbstbestimmung der Frauen: «Dass der Lohn und damit die Renten zentral sind, haben wir von Anfang an thematisiert». Sie erwartet, dass punkto Lohngleichheit der Druck auch seitens Politik weiterhin hochgehalten werde. Diese sei in der Bundesverfassung seit 1981 verankert und seit 1996 im Gleichstellungsgesetz spezifiziert. Damit Gesetz und Realität sich endlich decken, leistet der BPW seit vielen Jahren Sensibilisierungsarbeit, unter anderem auch mit dem Equal Pay Day. In diesem Jahr ist er ganz dem Thema Gender Pension Gap gewidmet.
Frauen unterschiedlichster Partei-Couleur sind sich jedoch darüber einig, dass die Frauenrenten in der 2. Säule zu tief sind. Eine breite Allianz an 16 Frauenverbänden hat diese Woche höhere Renten gefordert und den Druck auf den Ständerat erhöht. Der berät zurzeit die Reform. Selten haben Bäuerinnen bis hin zu Business-Frauen zusammen Wandel gefordert. Dies wird die Politik nicht ignorieren können.