Samantha: Für mich geht's gar nicht ums längere Arbeiten. Das werden wir ohnehin müssen. Aber diese Vorlage ist ein schlechter Deal. Und wir Frauen haben mit dem Rentenalter einen wichtigen Hebel in der Hand. Den dürfen wir nicht ohne Gegenleistung aufgeben, oder wie siehst du das?
Nadine: Es ist verzwickt. Seit 25 Jahren werden Reformen blockiert – zu Lasten der jüngeren Generationen. Wir stimmen über die 1. Säule ab, aber die Lücken für die Frauen entstehen in der 2. und 3. Säule. Bei dieser Vorlage geht es darum, die Renten für die Jungen zu sichern. Wir müssen eigentlich das System einmal als Ganzes revidieren. Aber es ist so: Unser Vorsorgesystem ist nicht auf die weibliche Lebensrealität ausgerichtet. Frauen erhalten aus der Pensionskasse weniger als halb so viel wie Männer. 36 Prozent der Frauen haben keine 3. Säule. Das müssten wir ändern, aber darum geht es nicht bei dieser Vorlage. Was wäre die Gegenleistung, die du dir vorstellst?
Samantha: Ich finde: Alle müssen einen Beitrag zur Rettung der AHV leisten – auch die Männer. Warum werden beispielsweise nicht die Lohnbeiträge bei allen ganz leicht angepasst? Zumindest für eine gewisse Einkommenshöhe während einer bestimmten Zeit? Die Beiträge sind seit 1975 gleich. Das würde uns Zeit verschaffen für die grossen Fragen. Ich will, dass sich die Politik verpflichtet, konkrete Schritte für die Gleichstellung zu unternehmen. Es braucht eine Strategie zur Überprüfung und Umsetzung der Lohngleichheit. Die BVG-Reform ist längst fällig. Das wären Gegenleistungen. Natürlich kann man das nicht in eine AHV-Reform schreiben. Aber es gar nicht anzugehen, geht auch nicht.
Nadine: Lohnbeiträge erhöhen, ist eine Idee. Deine anderen Forderungen lassen sich aber nicht ins AHV-Gesetz schreiben. Übrigens haben wir Gesetze: Die Verfassung verlangt Lohngleichheit, das Gleichstellungsgesetz existiert seit 1995. Man müsste sie endlich anwenden! Doch die Zeit drängt: Mich stören die Behauptungen, die AHV stehe finanziell gut da. Spätestens 2030 klafft da ein Loch. Langfristig sind die Renten nicht gesichert, wenn wir alle nicht länger arbeiten werden. Es gibt immer mehr Rentner:innen auf immer weniger Erwerbstätige. Keine Generation will auf einen Teil ihrer Rente verzichten, dann bleibt ja nur länger zu arbeiten. Nun sollen es die Frauen richten, aber nur die Generationen nach den Babyboomern, die Jahrgänge 1964 und jünger. Ist dir das auch schon aufgefallen?
Samantha: Ach ja, Boomer für Boomer. Nach diesem Motto haben die Herren im Parlament wohl die Ausgleichszahlungen für ihre Frauen beschlossen. Naja, das ist jetzt eine Unterstellung. Aber wer danach kommt, geht leer aus. Und sowieso sind die Kompensationen sehr knausrig bemessen auch im Vergleich mit früheren Reformen. Vom maximalen Zuschlag profitieren gerade mal zwei Jahrgänge. Viele Frauen aus der Übergangsgeneration fahren schlechter. Aber ob Boomer oder nicht, mich stört wie dich, dass alles an den Frauen hängen bleibt. Die Demografie können wir über kurz oder lang nicht wegdiskutieren. Wir werden länger arbeiten müssen, auch länger als bis 65 – und zwar alle. Aber genau diesem Umstand trägt die aktuelle Vorlage in keiner Weise Rechnung. Im Schnitt verliert jede Frau durch die Erhöhung des Rentenalters 26’000 Franken Rente. Das ist eine Rentenkürzung. Das können die Befürworter:innen nicht schönreden. Es ist, als müsste man plötzlich 50 Stunden pro Woche zum selben Lohn arbeiten.
Nadine: Aber diese Einbussen werden kompensiert. Frauen der Jahrgänge 1964 und 1965, die den maximalen Zuschlag von 160 Franken bekommen, profitieren aufs Leben gesehen von fast 40'000 Franken mehr Rente. Auch wenn man noch die 26'000 Franken abzieht, bleibt unter dem Strich ein Plus. Jüngere Frauen, die alle ausgebildet sind, bekommen länger Lohn und können länger in ihre Vorsorge einzahlen. Was ich nicht verstehe: Warum hat man das Rentenalter der Männer nicht auch um ein Jahr erhöht? Dann wäre die Vorlage nicht zur Frauenfrage geworden, sondern es wäre nur um die Demografie und die Sicherung der Renten gegangen. Unklug war es auch, die Reform des flexiblen Koordinationsabzugs in der zweiten Säule auf Eis zu legen; das wäre das ein wichtiges Zeichen gewesen, dass man dran ist. Das Parlament hat keine Glanzleistung in Taktik und Vorgehensweise geboten.
Samantha: Das Rentenalter der Männer zu erhöhen, hätte die Frauenfrage entschärft. Die Widerstände wären aber bestimmt grösser gewesen. Der Druck, die AHV zu reformieren, ist hoch. Man hat sich auch für ein Paket entschieden, das so wenig wie möglich aneckt, und sich gedacht: Die Frauen kriegen wir schon rum – oder zumindest einen Teil, und dann reicht es ja schon für ein Ja. Was rechtfertigt für dich eigentlich die Erhöhung der Mehrwertsteuer? Die trifft ja die Frauen gleich nochmal, und sie trifft sie mehr als die Männer. Denn sie belastet tiefe Einkommen besonders. Und wie wir wissen, verdienen Frauen im Schnitt rund 40 Prozent weniger als Männer, haben weniger Vermögen und sind deutlich mehr von Altersarmut betroffen. Frauen werden mit dieser Vorlage also doppelt bestraft.
Nadine: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer betrifft alle. Aber natürlich trifft sie einkommensschwache Haushalte proportional gesehen stärker. Dazu gehören aber nicht nur Frauen, sondern auch Familien, junge Menschen oder auch Rentner und Rentnerinnen. Im Vergleich zu anderen Ländern wie beispielsweise Deutschland ist die Mehrwertsteuer in der Schweiz übrigens sehr tief.
Samantha: Enttäuscht es dich nicht auch, dass man keinen Deal hingekriegt hat, so wie beispielsweise bei der 10. AHV-Revision? Da wurde das Rentenalter der Frauen ja auch erhöht, aber dafür gab es Erziehungs- und Betreuungsgutschriften. So wurde die Familien- und Betreuungsarbeit wenigstens rentenwirksam. Bei dieser Reform steht nichts auf der anderen Seite. Keine höheren Betreuungsgutschriften, kaum oder gar nicht aufgebesserte Renten in der ersten Säule, und die zweite und dritte Säule bleiben Männersache. Frauen müssen noch immer zahlreiche Hürden überwinden, um in diese beiden Säulen einzuzahlen, geschweige denn von ihnen profitieren zu können. Der Weg bis zur Rente gleicht einem 1000 Meter-Lauf, und auf der Bahn der Frauen stehen zahlreiche Hürden. Den Lauf gewinnen deshalb die Männer und kassieren deswegen auch viel höhere Preisgelder ein.
Nadine: Ich bin bei dir, die Vorlage ist kein grosser Wurf. Das ist wohl auch deshalb, weil man nicht wieder jahrelang an einer grossen Vorlage bastelt, die dann versenkt wird. Es geht trotzdem was: Meinen Vorstoss von der Frauensession für die Erhöhung der Betreuungs- und Erziehungsgutschriften in der AHV haben Stände- wie Bundesrat angenommen! Künftig erhalten mehr Menschen dank der von ihnen geleisteten Care-Arbeit eine höhere AHV-Rente. Es bestehen auch gute Chancen, dass der Koordinationsabzug in der 2. Säule auch flexibel wird und weitere Forderungen, wie die Motion Ettlin, umgesetzt werden. Meine Befürchtung bei einem Nein ist, dass wieder viele Jahre ins Land gehen, bis die nächste Reform kommt, und diese Zeit haben wir nicht. In vielen Ländern ist das Rentenalter 67 für alle eingeführt worden. Ich weiss nicht, wie es dir geht, aber ich habe nie damit gerechnet, mit 64 in Rente zu gehen.
Samantha: Mir geht es wie dir. Ich bin auch nie davon ausgegangen, dass ich mit 64 in Rente gehen kann. Und ich finde es auch in Ordnung, wenn wir länger arbeiten müssen. Wir werden älter, wir bleiben länger fit – hoffentlich. Ich bin aber schon der Meinung, dass man ab einem gewissen Alter eine echte Wahl haben sollte, ob man noch arbeiten möchte oder nicht. Diese Wahl muss allen offenstehen, nicht nur jenen mit den tollen Jobs, die gut bis sehr gut verdienen und sich eine Frühpensionierung leisten können. Gerade Frauen haben diese Wahl aufgrund ihrer Erwerbsbiografien, ihren Tätigkeiten in Niedriglohnjobs und der daraus entstehenden finanziellen Situation deutlich seltener. Darum ist das auch mit der Flexibilisierung so eine Sache. Denn mit dieser Reform wird es für Frauen nicht einfacher, früher in Rente zu gehen.
Nadine: Das Ziel muss doch sein, dass jeder Mensch in diesem Land eine ausreichende Rente zum Leben bekommt. Dafür müssen wir das Sozialwerk mit den drei Säulen so überdenken, dass Frauen und ihr Lebensweg berücksichtigt werden. In der AHV wird viel umverteilt, und das ist gut so. In der Höhe der Rente besteht in der ersten Säule kein Gap zwischen den Geschlechtern. Nur die wenigsten Menschen bekommen aber eine Vollrente, und selbst die reicht nicht zum Leben im Alter, das ist doch das eigentliche Problem – für Frauen wie Männer! Unabhängig von dieser Abstimmung müssen wir diese Rahmenbedingungen einfordern: eine bessere Vereinbarkeit, die Individualbesteuerung, zahlbare Kitas und schulische Betreuungsstrukturen in jeder Gemeinde. Das Dreisäulenprinzip ist eigentlich ein gutes Prinzip. Es wurde aber für das Modell des Alleinernährers konzipiert, für eine Ehefrau ohne Bankkonto, ohne Stimmrecht und ohne Erwerbsarbeit.
Samantha: Genau das meinte ich mit diesen Gegenleistungen, die ich erwarte. Wir müssen grösser denken, über die Altersvorsorge hinaus, und endlich die Probleme in der Gleichstellung angehen, die du auch ansprichst: Wie schaffen wir es, dass Frauen schneller aus der Familie zurück in den Arbeitsmarkt kommen oder überhaupt dahin zurückkehren? Wie bringen wir Frauen dazu, in höheren Pensen zu arbeiten? Wie schaffen wir es, Care-Arbeit besser zu verteilen? Wie beseitigen wir die Lohnungleichheit? Das mag idealistisch klingen. Aber diese Punkte haben einen direkten Einfluss auf die Finanzen in der ersten Säule. Für die Einnahmen zählt ja nicht nur, wie viele Menschen einzahlen, sondern auch die Lohnsumme. Verdienen Frauen also mehr, durch höhere Pensen und bessere Löhne, zahlen sie auch mehr in die AHV ein. Laut Erhebungen des Bundes entgehen Frauen in der Schweiz allein durch Diskriminierung jährlich rund 7,7 Milliarden Franken Lohn. Diese Beiträge fehlen auch in der AHV.
Nadine: Diese Fragen, die du aufwirfst, beschäftigen mich schon seit Jahrzehnten, und das ist ja mit ein Grund, weshalb wir elleXX gegründet haben. Ein Teil lässt sich bestimmt über Gesetze lösen, aber ich bin da auch einfach pragmatisch: Ein Teil liegt auch in der Eigenverantwortung der Menschen. Eine AHV-Vorlage kann nun wirklich nicht alle Herausforderungen lösen. Jede Frau kann sich selbst die Frage beantworten, ob sie sich heute in der Lage sieht, gleich lange wie ein Mann erwerbstätig zu sein. Das Recht bildet ja eigentlich immer verspätet die gesellschaftlichen Realitäten ab – und noch bis vor 35 Jahren konnten die Frauen ja noch nicht einmal ein eigenes Bankkonto ohne Erlaubnis eröffnen. Der Wandel findet statt, aber langsam.
Samantha: Mir ist klar, dass man nicht all die strukturellen Fragen in eine AHV-Reform packen kann. Was mir fehlt, ist das Commitment. Die Politik vertröstet die Frauen auf später – einmal mehr. Nach dem Motto: «Arbeitet erst mal so lange wie die Männer, dann schauen wir weiter.» Meine Befürchtung ist, dass das genau nicht passieren wird. Ich weiss nicht, wie gross dein Vertrauen in die fortschrittlichen Kräfte in unserem Land ist. Meins ist leider nicht so gross. Das zeigen mir auch immer wieder die Abstimmungen zu Gleichstellungsfragen. Darum bin ich sicher: Wenn wir diese Reform annehmen, geht in Sachen Gleichstellung wieder sehr lange nichts. Wir verarzten die AHV mit einem Pflaster. So können wir uns weiterhin vor den strukturellen Fragen drücken und die grossen Probleme aufschieben. Das geht so einfach nicht mehr. Meine Geduld neigt sich dem Ende zu.
Nadine: Ich verstehe dich. Im Parlament wird zu oft Partei- statt Sachpolitik betrieben. Es fehlt die Kompromissbereitschaft. Aber vergessen wir nicht, es ist ein Generationenprojekt. Es geht nicht um Frauen gegen Männer oder Jung gegen Alt. Vielleicht ändert es sich erst, wenn jüngere und diverse Menschen Politik machen, damit die Lebensrealität aller und nicht einiger weniger abgebildet wird. Egal wie die Abstimmung ausgehen wird, das System ist insgesamt für die Frauen noch immer kein gutes. Aber wir müssen den Demografie-Gap schliessen. Es trifft sonst die jungen und jüngsten Menschen in diesem Land, auch Frauen. Es kommt mir vor wie mit dem Klimawandel, wir schieben es immer weiter raus, bis es kracht. Was die jüngsten Generationen heute einzahlen, werden sie voraussichtlich niemals zurückbekommen. Die Altersvorsorge muss ein würdiges Lebensende garantieren können. Und das ist momentan nicht gewährleistet, weder für Frauen noch für Männer, die heute Erwerbs- und Care-Arbeit leisten.